Starr ist sein Blick, schmal sein Mund unterm Schnurrbart, als würde er sich konzentrieren. Vom aktuellen, rot dominierten Cover des Retro Magazins schaut ein willensstarker Spielersoldat aus der Sowjetrepublik Gamestan. Man wüsste zu gern, was er in den Händen hält und worauf er schaut, wäre das Bild unten nicht abgeschnitten, um für den Titel „Ostzillation – Computer im Osten“ Platz zu machen. Wahrscheinlich zockt er gerade eine Runde Tetris und bekommt einfach den törichten S-Stein oder seinen spiegelverkehrten Bruder Z nicht ohne Lücke unter.
Das Cover des Retro Magazins erinnert an Propaganda vergangener Zeiten. Jedoch wird bei genauerem Hinsehen deutlich, dass hier unter der Flagge von Steuerkreuzen und Controllerknöpfen in die Jagd nach dem Highscore gezogen wird. Das Kombinat im Hintergrund hat dazu passend Tetris-Steine aka Tetrominos als Fassade. Endlich ist also klar, wer diese Formen herstellt. Angekündigt werden Themen rund um „Computer im Osten“ und damit sind nicht die Foxconn Fabriken in China gemeint. Wir haben mit der 30. Ausgabe der Retro also ein Thema erwischt, um euch das Magazin ans Herz zu legen, welche dann doch ziemlich speziell ist. Andere Ausgaben hatten z.B. schon solche Schwerpunkte wie Spielmusik, Jump ’n‘ Run, Genie und Spieltrieb oder etwa LAN-Partys.
Rückwärts immer
Heute wollen wir euch also mal, ungewöhnlich für einen App Blog, eine Zeitschrift vorstellen, welche den Blick zurück macht und schon vom Titel her ganz rückwärts ist. Warum? Ihr werdet feststellen, wenn ihr euch das Retro Magazin besorgt, dass es auch vorm A7-Chip interessante Schaltkreise gab und es immer eine Verbindung zu aktuellen und zukünftigen Themen findet. Außerdem ist etwas Nostalgie bei uns ebenso angesagt wie die neuesten Flappy-Birds. Und nein, das Retro Magazin gibt es nicht fürs Smartphone als Anwendung und auch nicht für Einplatinencomputer, aber dafür als PDF. Um was geht es also?
Beim ersten Durchblättern des Retro Magazins fällt die ungewöhnliche Einfärbung der Seiten auf. Sie sind gelb-braun gehalten und wirken ausgeblichen, wie altes Papier oder Pergament. Screenshots sind fast immer typisch pixelig, was nicht an der falschen Druckauflösung liegt, wie viele Abbildungen mit dem typischen „Retro-Look“ beweisen und das auch ohne Insta-Filter. In der Retro geht es ziemlich echt zu und handfest. Man kann sich selbst schon vom ersten Durchblättern einen guten Eindruck verschaffen, für wen das Magazin gemacht ist. Weiterhin enthält das Magazin so gut wie keine Werbeanzeigen bzw. nur zum Thema relevante. Eine Leseprobe der Retro erhaltet ihr hier [pdf].
Retro Magazin 30
Der Poly-Play ist der einzige Arcade-Automat, der in der DDR entwickelt und produziert wurde. Spiele wie Hirschjagd, ein Pac-Man Clone „Hase und Wolf“ sowie Wasserrohrbruch wurden ab Mitte der 80er Jahre in FDGB-Ferienheimen zu einer Club Cola gezockt. Sagenhafte 2,4576 MHz hatte sein Prozessor und eine Auflösung von 512 × 256 sein Fernseher. Ja, man konnte seinen Münzeinwurf sogar mit einem Pfenning (so hießen die kleinsten Münzen, bevor sie zum Cent wurden) überlisten. Cheat für den Poly-Play sozusagen. Details zu seiner Produktion hat der Archivar Jens Zirpins in seinem Artikel zusammengestellt, welche den Auftakt für den Themenschwerpunkt im Retro Magazin 30 darstellt.
Das Leitthema „Ostzillation“ erstreckt sich über zehn Artikel und bietet damit viel Lesestoff. Die Titel sind jedoch auch sehr technisch und erfordern zumeist auch beim Leser, dass er mit den entsprechenden Begriffen etwas anzufangen weiß und sich auf sie einlässt. Zum Beispiel erfahren wir in dieser Rubrik alles über die Entstehung und Produktion des Poly Play, welcher in der DDR entwickelt und produziert wurde. In einem Interview mit Dr. Werner Domschke im Artikel „Etwas Eigenes und Besseres“ wird die Geschichte über die Entwicklung des KC 85 greifbarer gemacht. Dann meldet sich ein Gastautor zu Wort. Aus der Ich-Perspektive von Horst Völz, welcher Software für den KC 85 entwickelte, erfahren wir seine Erlebnisse aus den Jahren 1987 bis 1989. Sehr schön auch hier am Ende des Artikels das verfügbare Zusatzmaterial: Die erste Sendung der Reihe als MP3-Download sowie die gesammelten Versprecher der nach der Versuchssendung entstandenen Aufzeichnungen, welche damals jedoch nie im Radio gesendet werden durften.
Ostzillation zieht sich nicht nur durchs Leitthema, sondern beeinflusst auch die anderen Rubriken. Das Retro Magazin ist in fünf Ressorts unterteilt: News, Thema, Hardware, Software und Retrokultur. In den News erwarten den Leser ein Kalender mit wichtigen Events und Veranstaltungen zum Thema Retro-Gaming oder -Computer. Es folgen Kurzmeldungen zu verschiedenen aktuellen Themen, wie beispielsweise der Entwicklung eines neuen Augmented Reality Games als Nachfolger des populären „Ingress“. Am Ende der Kurzmeldungen befinden sich überwiegend Short-URLs, mit Quellenlinks und ausführlichen Artikeln zum Thema (oft in Englisch).
Die Hardware-Rubrik des Retro Magazins ist dem technisch interessierten Leser gewidmet und genau wie im Thema-Teil geht es hier um frühe Errungenschaften der Mikroelektronik. Das Software-Ressort ist dann auch für die Leser gemacht, welche sich über installierbaren neuen Stuff informieren wollen, sie können Anregungen in der „Angespielt“-Rubrik finden. Im Zeitschriftenteil Retrokultur werden dem Leser Buchrezensionen und Interviews geboten.
Fachlich macht die Retro einen kompetenten Eindruck und sie erreicht als Nischenprodukt genau die Leser, die sie erreichen möchte. Menschen wie die Autoren selbst, die für das, was sie schreiben leben und sich dafür interessieren.
Apps auf Diskette
Geschichte regt dazu an, um über die aktuellen Geschehnisse nachzudenken. Das heißt im Bereich der Computertechnik vor allem auch mal wieder das zu wertschätzen, was man heute unter seinen Fingerkuppen bedient. So haben mich die Berichte zum Poly-Play und zur Basic-Schulung übers Radio sehr interessiert. Auch die Gruppe der Technik-Berger als Halle zog mich in ihren Bann. Mein persönliches Highlight ist auf Seite 44 die Kolumne von Chris Pfeiler, welcher tatsächlich den gleichen Computer hatte, mit dem ich meinen Erstkontakt mit Spielen und Technik hatte – den guten alten Commodore Plus/4.
Die technische Ausrichtung in dieser Retro Ausgabe ist naturgemäß sehr hoch. Daher empfehle ich die Zeitschrift Lesern mit hoher technischer Affinität, insbesondere für Computersysteme, und dem Interesse an den Anfang der digitalen Entwicklung. Die Zeiten waren andere. Damals stand nicht das Betriebssystem oder die Anwendung im Vordergrund, sondern zuerst einmal die Technik hinter den Tasten. Das führt zu teilweise ulkigen Anmerkungen, wie etwa, dass man mit dem oder jenen Gerät kaum spielen konnte, da er nur eine Ausgabe auf Papier besaß und keinen Monitor. Da streichelt man dann sein Pad oder Tablet und denkt mal wieder, wie lang der Weg war bis zum 8 mm dicken Gehäuse. Erst vor kurzem gab es übrigens, als Google Play Premium-Apps auf Datenträgern ankündigte, einen ähnlichen Retro-Moment, die aktuelle Machart zu hinterfragen. Gerade auch im Bereich der Apps trifft man ständig auf Bezüge zur Vergangenheit. Viele Spiele bedienen sich alten Spielprinzipien und damit meine ich nicht Tetris. Gerade im Bereich der Geschicklichkeitsspiele, Weltraum-Shooter und Endless-Runner trifft man an allen Ecken im Store ein Remake eines Klassikers. Auch die Diskussion zur Preispolitik des Freemium-Marktes nimmt immer wieder Bezüge zum Boxen-Vertrieb vergangener Tage.
Zum Background: Die Retro, eine Fachzeitschrift des CSW-Verlags aus Winnenden, welche sich mit Computern, Spielen und Kultur von früher und heute beschäftigt, feiert nach siebeneinhalb Jahren in der April-Ausgabe 01/2014 ihre 30. Ausgabe. Leitthema der Jubiläumsausgabe ist „Ostzillation – Computer im Osten“. Einige technische Errungenschaften in der Mikroelektronik und Informatik sind das Ergebnis heller Köpfe in östlichen Ländern, womit sich die Retro in dieser Ausgabe sehr ausführlich beschäftigt und näher über diese Arbeit informiert. Herausgeber der Zeitschrift sind Enno Coners und Dr. Stephan Humer. Ersterer ist der Verleger des CSW-Verlags. Dieser beschäftigt sich mit Literatur mit dem Themenschwerpunkt Digitale Kultur. In einem Interview im Stadtmagazin.com aus dem Jahre 2012 schließt er mit den Worten, dass die Retro gleichzeitig auch actro ist. Das bedeutet, die Autoren schätzen das Frühere, nehmen aber auch aktuelle Entwicklungen an und in sich auf. Neues wie Altes. Dies wird gegen Ende der Zeitschrift deutlich, wenn sich auch Artikel und Kurzvorstellungen aktueller Software darin finden.
Wann kommt das nächste Retro Magazin?
Die Zeitschrift Retro wird vier Mal im Jahr herausgegeben. Die nächste Ausgabe erscheint im Juni 2014. Pro Ausgabe sind 6,95 Euro fällig, welche einem umfangreiche Beiträge in einem fast werbefreien Umfang garantieren. Bestellen könnt ihr das Retro Magazin z.B. hier beim CSW-Verlag.