Ich lese Zeitung nur noch bei meiner Oma. Das klingt furchtbar, ist aber irgendwie so. Niemand in der Familie hat tatsächlich noch ein Abo, außer meiner Mutter. Für sie gab es das Abonnement einer Gartenzeitschrift vor zwei Jahren zu Weihnachten. Auch die Zeitung bei Oma kommt eigentlich immer zerknittert und falsch gefalten von den Nachbarn. Warum ist das heute so? Es hieß doch immer eBooks und eReader seien nicht so toll. Man möchte das Buch schon in der Hand halten beim Lesen, die Seiten spüren, sich beim umblättern die Finger lecken (ihgitt). Das gleiche müsste doch auch für Zeitschriften, Magazine und Zeitungen gelten. Dennoch verzeichnen die Verlage immer weiter fallende Auflagenzahlen. Niemand kauft mehr Buch und niemand kauft mehr Zeitung. In Zeiten von Netflix und Spotify wollen die Leute ihre Inhalte sofort und am liebsten kostenlos rezipieren. Und noch ein Problem gibt es mit der Zeitung: sie muss als Ganzes gekauft werden, auch wenn eigentlich nur ein kleiner Teil des Inhaltes interessant ist.
Das will Blendle nun ändern.
Willkommen bei Blendle, dem virtuellen Kiosk
Unbundling heißt das Zauberwort. Und das geht so: Verlage bieten ihr Zeitungen und einzelne Artikel auf Blendle an. Der Kunde zahlt nur noch für das, was er tatsächlich liest. Das Konzept mit den Micropayments geht auf. In den Niederlanden hat Blendle bereits über 400.000 überwiegend jüngere Nutzer, die nach eigenen Angeben des Startups auch bereit sind, für einzelne Artikel und damit für guten Journalismus zu zahlen. Die New York Times und der Axel Springer Verlag investieren in das mittlerweile 70 Mitarbeiter zählende Unternehmen zusammen 3,8 Millionen Dollar. Und das, obwohl Springer mit Bild Plus schon sein eigenes Bezahlsystem auf dem Onlinemarkt hat.
Das Konzept der Entbündelung folgt also eigentlich nur einem Trend. Früher gab es Alben zu kaufen, später Singles. Heute kann man sich einzelne Songs bei diversen Anbietern kaufen. Das gleiche gilt für Filme, Serien und journalistische Beiträge. Einzelne Inhalte werden aus ihrem Gesamtkonzept gerissen und für sich rezipiert. Die journalistische Arbeit, die dahinter steckt, geht verloren. All das Auswählen, Konzipieren, Recherchieren von Hintergründen, eben das Konzept, was sich die Medienmacher bei der Zusammenstellung der Informationen gedacht haben. All das interessiert uns längst nicht mehr. Wir haben keine Zeit. Wir wollen genau jetzt, genau das erfahren, was wir wissen wollen oder was uns jemand empfohlen hat. Nicht mehr. Das gilt für Musik, für Filme, für Serien, für Nachrichtenbeiträge. Und, das haben die beiden Gründer von Blendle – Marten Blankesteijn und Alexander Klöpping – erkannt, das gilt auch für Zeitungsartikel. Was iTunes mit den Musik-Alben vorgemacht hat, soll nun auch im Verlagswesen funktionieren.
Die Geld-Zurück-Garantie
Bendle ist in Deutschland bereits mit über 100 Titeln dabei. Darunter befinden sich viele namhafte Blätter, wie FAZ, Zeit, das Handelsblatt, Welt und Magazine wie der Kicker, 11 Freunde, Stern, Gala, Neon, Brigitte usw. Englischsprachige Publikationen wie die New York Times und The Economist, das Wallstreet Journal und die Washington Post sind auf Blendle vertreten. Einige Lokalzeitungen findet man ebenfalls im Angebot und dieses soll noch weiter wachsen. Laut den Ergebnissen der Betaphase würden die deutschen Leser auf Blendle eher längere und gut recherchierte Texte bevorzugen. Daher sind sehr kurze Nachrichten und Clickbaits auf der Plattform eher nicht zu erwarten.
Für die Anmeldung bei Blendle wird eine Emailadresse sowie Vor- und Nachname abgefragt. Zugang erhält man erst, wenn man die Bestätigungsemail aufgerufen hat. Dafür bekommt man als Dankeschön vom Unternehmen 2,50€ als Startguthaben geschenkt und kann fast schon loslesen. Vorher muss man sich aber noch auf seine Lieblingsthemen beschränken. Hier wählt man am Besten alle aus, ansonsten erhält man später von der App keinen Zugriff mehr darauf.
Das Interface und die Bedienbarkeit der App sind sehr einfach, da sie auf nur wenige Funktionen beschränkt ist. Es gibt einen Feed mit Artikeln. Aus einer Liste kann man das Ressort auswählen oder sich von den Blendle-Mitarbeitern in der Kategorie StaffPick Empfehlungen anzeigen lassen. Viel mehr Einstellungen gibt es nicht. Über jedem Artikel gibt es einen kleinen Text von einem Blendle-Redakteur, der dessen Inhalt kurz umreißt und ein Herz zeigt die Anzahl der Empfehlungen von anderen Lesern und Redakteuren an. Ein Datum ist nirgends vermerkt und der Autor wird je nach Zeitung und Artikel an anderer Stelle oder auch gar nicht aufgeführt. Die Kosten für jeden Artikel stehen neben dem Titel der Zeitung. Daneben gibt es einen Button, mit dem man Texte auf seine eigene Merkliste speichern kann. Beim ersten Klick auf einen Artikel, der eventuell von Interesse sein könnte, gilt dieser ohne weitere Vorwarnung als gekauft und der jeweilige Cent-Betrag wird vom Budget abgezogen.
Gefällt er nicht, weil er zu lang war, zu kurz, nicht gefallen hat oder aus anderen Gründen, kann das Geld unkompliziert wieder zurückgefordert werden. Ebenfalls mit nur einem Klick, landet der abgebuchte Betrag wieder im Portemonnaie auf Blendle. Einen Zugriff auf das eigene Konto gibt es in der App nicht. Man kann sich einfach nur ausloggen. Das heißt, dass man sich auf der Webseite extra einloggen muss, um seinen Kontostand zu prüfen und Guthaben aufzuladen. Dass die App im Gegensatz zur Webseite noch ein paar weitere Verbesserungen nötig hat, lässt sich schon an den Bewertungen der App-Nutzer, sowohl auf GooglePlay als auch bei iTunes ablesen. Der Lesekomfort ist bei der App von Blendle nicht ganz so hoch wie man es vielleicht vom eReader gewohnt ist, denn die Artikel müssen von oben bis unten durchgescrollt werden und es gibt keine Möglichkeit rein oder raus zu zoomen. Die unterschiedlichen Typografien sowie der Aufbau der Artikel sind an die jeweiligen Zeitungen angelehnt bzw. direkt aus diesen übernommen, was sicher deren Wiedererkennbarkeit dient. Allerdings sehen die Texte dadurch alle unterschiedlich aus und Blendle scheint damit so seine technischen Probleme zu haben, denn in den Bewertungen der App häufen sich Beschwerden über „zerschossene“ und damit unleserliche Artikel. Zum Glück kann man sein Geld für derartige Publikationen einfach zurückfordern. Und ein Manko gibt es noch: ein Artikel der FAZ bspw., der auf Blendle 0,45€ kostet, gibt es online umsonst zu lesen. In den vierseitigen Artikel sind online, sogar Videos integriert. Das Geld dafür kann man sich also getrost zurückgeben lassen. Das funktioniert sogar noch am Tag nach dem Kauf des Artikels.
Was der App fehlt ist, auf der Webseite meistens vorhanden. Die Artikel sind besser sortierbar, sie sind mit Datum versehen und es wird angegeben, wie viel Zeit das Lesen in Anspruch nehmen wird. Auf der Webseite lassen sich sogar Alerts für bestimmte Themen einrichten, was das Verfolgen dieser in den verschiedenen Publikationen vereinfacht. Auch der Kauf von ganzen Zeitungen oder Magazinen ist bisher nur über die Webseite möglich. Außerdem gibt es nur im Web eine Kontenübersicht, über die man sein Guthaben auch aufladen kann. Das virtuelle Portemonnaie kann man mit mindestens 5€ und maximal 150€ füllen. Dieses muss man dann auch auf Blendle loswerden, denn zurückerstattet wird das noch vorhandene Guthaben nur in Ausnahmefällen. Die Preise pro Artikel bestimmen die Verlage selbst, 30 Prozent gehen jeweils an Blendle.
Das sind die meistverkauften Artikel des letzten Monats
Etwa einen Monat gibt es Blendle mittlerweile in Deutschland und die Nutzerzahl ist auf eine halbe Million gewachsen. Damit hat der Artikel-Kiosk hierzulande einen noch stärkeren Start als in unserem Nachbarland hingelegt (viermal schnelleres Wachstum als zu Beginn in den Niederlanden). Doch welche Artikel wurden bisher am häufigsten gelesen bzw. gekauft? Hier sind die Spitzenplätze mit Links direkt zum Artikel:
- „Nahost 2035“, Cicero
Analyse zur Zukunft des Nahen Ostens von Wilfried Buchta - „Naivität des Bösen“, Die Zeit
Analyse zur Angst vor Flüchtlingen von Bernd Ulrich - „Straight Outta Kontext“, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Zur Entbündelung der Medien, von Stefan Niggemeier. - „Heidi und die Brandstifter“, Die Zeit
Geschichte einer Aussteigerin aus dem “Bund Heimattreuer Jugend”, ein Nazi-Camp - „Die Hetzerjagd“, Der Spiegel
Zuhause bei einem wegen rassistischer Posts gefeuerten Facebook-Nutzer
Revolutioniert Blendle den Zeitungsmarkt?
Wenn man sich mit dem Thema Micropayments oder Zeitungskauf beschäftigt, stößt man unvermeintlich auf eine Reihe an Vorgängern von Blendle. Das Bezahlsystem für Blogbeiträge wie Flattr oder ähnliche Konzepte wie Pocketstory, das sich auf längere Texte konzentriert, konnten sich bisher aber nicht so stark durchsetzen, was sicher auch an der Prominenten Geldhilfe liegt. Warum Blendle jetzt besser funktioniert, liegt vermutlich auch an dessen umfangreichem Angebot. Doch im Internet gibt es die Artikel teilweise auch umsonst, warum sollte also jemand dafür bezahlen wollen?
Das Angebot im Internet scheint nur auf den ersten Blick kostenlos. Das Problem nennt sich Paywalls. Die Verlage müssen schließlich irgendwie an Geld kommen und dafür gibt es die verschiedensten Systeme. Manche Seiten beschränken einfach den Zugriff auf eine bestimmte Anzahl ihrer Artikel. Hat man bspw. zehn Beiträge gelesen, kann man nicht auf weitere zugreifen, es sei denn man kauft ein Abo. Andere setzen auf freiwillige Spenden der Leserschaft oder man bekommt erst Zugang zu bestimmten Artikeln, wenn man schon bezahlt hat. Da jeder Verlag und jede Zeitung oder jedes Magazin ein anderes Verfahren nutzt, muss man sich auch überall separat zum Bezahlen anmelden. Das ist unübersichtlich und es nervt.
Blendle vereinfacht das Ganze jetzt enorm, indem man verlagsübergreifend und nur auf einer Plattform für alles bezahlen kann. Das einzige, was dem Artikel-Kiosk noch fehlen würde sind Flatrates, denn Vielleser müssten doch ständig auf ihre Ausgaben achten. Eine Flatrate würde dies vereinfachen und viele Nutzer sind diese bereits von Diensten wie Netflix gewohnt. Blendle wird diese Strategie aber nicht wählen, da die Gründer lieber Leute erreichen möchten, die nur ein paar wenige Euro im Monat bezahlen wollen. Blendle eignet sich daher für Menschen, die sich für die verschiedenen Positionen der Blätter interessieren oder einfach das breite Angebot auskosten wollen. Wer lieber eine Flatrate möchte, wechselt zu Readly, wo es für 9,99€ im Monat über 900 Magazine zu lesen gibt. Allerdings wiederum als ganze Magazine und keine einzelnen Artikel. Die letzte Alternative zur Flatrate ist also wieder das Abo einer Zeitung selbst, weshalb sich die Verlage nun auch so sehr für Blendle interessieren.
Interessant bleibt es aber auch für die Kunden, denn Blendle gibt sich überaus nutzerfreundlich und verspricht neben umfangreichem Lesevergnügen auch noch ohne Werbung, ohne Abonnements und ohne Clickbaiting auszukommen. Einen Versuch ist es zumindest Wert. Auch wenn die App noch starkes Verbesserungspotential aufweist.