Landkarten sind weit mehr als nur Orientierungshilfen. Sie haben eine tiefe historische, kulturelle und politische Bedeutung und formen unsere Wahrnehmung der Welt auf vielfältige Weise. Die ARTE-Dokumentation „Wie mächtig sind Landkarten?“ aus der Reihe „42 – Die Antwort auf fast alles“ beleuchtet diese Macht der Karten und geht der Frage nach, wie Karten die Welt nicht nur abbilden, sondern auch formen. Der folgende Artikel analysiert die zentrale These der Sendung, dass Karten als Machtinstrumente agieren, die Weltbilder erzeugen und politische, soziale sowie wirtschaftliche Dynamiken beeinflussen.
1. Die Illusion der Neutralität
Karten scheinen auf den ersten Blick neutral zu sein – sie zeigen Länder, Kontinente und Städte so, wie sie in der physischen Welt existieren. Doch die Dokumentation zeigt früh auf, dass Karten eine inhärente Subjektivität besitzen, da jede Karte eine Entscheidung darüber treffen muss, was sie zeigt und was sie weglässt. Diese Auswahl beeinflusst unser Verständnis der Welt.
Beispielsweise zeigt die bekannte Mercator-Projektion, die im 16. Jahrhundert von Gerhard Mercator entwickelt wurde, eine verzerrte Darstellung der Landmassen. Diese Karte stellt Europa und Nordamerika in überproportionaler Größe dar, während Afrika und Südamerika stark verkleinert werden. Diese Verzerrung ist nicht zufällig, sondern spiegelt die kolonialen Machtverhältnisse der Zeit wider. Die Dokumentation stellt fest, dass diese Kartenprojektion nicht nur die physische Welt abbildet, sondern auch eine ideologische Weltanschauung – in diesem Fall die Überlegenheit des Westens – unterstützt.
2. Kartografische Macht und politische Agenda
Die Macht der Kartografie zeigt sich besonders deutlich in der politischen Geschichte. Karten wurden verwendet, um Territorien zu definieren, zu beanspruchen und sogar zu erobern. Die berühmte Peters-Projektion, die in den 1970er Jahren von Arno Peters entwickelt wurde, stellt eine Gegenreaktion zur Mercator-Projektion dar. Peters kritisierte die Mercator-Karte als Ausdruck kolonialer Überlegenheitsideologie und entwickelte eine flächentreue Karte, die die tatsächlichen Größenverhältnisse der Kontinente zeigt.
Obwohl die Peters-Projektion flächentreu ist, wirkt sie auf den Betrachter verzerrt, da sie die gewohnte Vorstellung der Welt – mit Europa im Zentrum und dem Westen als dominierende Regionen – in Frage stellt. Die Dokumentation betont, dass Karten wie diese nicht nur geografische, sondern auch soziale und politische Weltanschauungen abbilden und somit Machtverhältnisse reflektieren und verstärken.
Ein weiteres Beispiel für die politische Instrumentalisierung von Karten ist die sogenannte „Nine-Dash-Line“, die von China genutzt wird, um territoriale Ansprüche im Südchinesischen Meer zu legitimieren. Diese Linie, die auf chinesischen Karten prominent dargestellt wird, markiert das Gebiet, das China als sein eigenes beansprucht – trotz internationaler Streitigkeiten mit Ländern wie den Philippinen, Vietnam und Indonesien.
3. Karten als Schöpfer von Nationen und Identitäten
Die Dokumentation zeigt, dass Karten auch eine aktive Rolle bei der Schaffung von Nationen und Identitäten spielen. Ein bemerkenswertes Beispiel hierfür ist die Entstehung der Philippinen als Nation im 16. Jahrhundert. Die erste Karte, die das philippinische Territorium darstellte, wurde im Auftrag des spanischen Königs erstellt und zeigte die Inseln als Teil des spanischen Kolonialreichs. Diese Karte diente nicht nur zur geografischen Orientierung, sondern auch zur symbolischen Unterwerfung der indigenen Bevölkerung und zur Legitimation der spanischen Herrschaft.
Hier wird deutlich, dass Karten oft nicht die tatsächlichen Machtverhältnisse widerspiegeln, sondern diese erst erzeugen. Wie die Dokumentation feststellt, wurden in vielen Fällen Karten erstellt, bevor ein Territorium tatsächlich erobert war. Dies war beispielsweise bei der Kolonialisierung Afrikas der Fall, wo europäische Mächte Grenzen auf Karten zogen, ohne Rücksicht auf die bestehenden sozialen und kulturellen Strukturen des Kontinents zu nehmen.
4. Der Einfluss moderner Kartografie auf unser Weltbild
Die Macht der Karten hat sich mit der Digitalisierung und der Entwicklung von GPS-basierten Diensten wie Google Maps erheblich verändert. Während historische Karten von Staaten und politischen Mächten erstellt wurden, liegt die Macht heute zunehmend in den Händen privater Unternehmen. Die Dokumentation zeigt auf, wie Google Maps durch die Darstellung von Orten und Wegen unsere Raumwahrnehmung und unser Konsumverhalten beeinflusst.
Interessanterweise passt Google Maps seine Karten je nach Region an, was politische und territoriale Spannungen widerspiegelt. In Indien wird die umstrittene Region Kaschmir als Teil Indiens dargestellt, während sie in Pakistan als umstrittenes Gebiet markiert ist. Diese Beispiele verdeutlichen, dass auch moderne Karten nicht neutral sind, sondern durch politische, wirtschaftliche und kulturelle Interessen geformt werden.
5. Gegenbewegungen und alternative Karten
Trotz der Dominanz von großen Konzernen wie Google gibt es auch Bewegungen, die versuchen, eine alternative Sicht auf die Welt zu schaffen. OpenStreetMap ist ein prominentes Beispiel für eine „Gegenkarte“, die von Nutzern aus aller Welt erstellt wird und lokale Informationen aus der Perspektive der Menschen vor Ort bietet. Ein besonders beeindruckendes Beispiel ist das „Map Kibera“-Projekt, bei dem Bewohner eines nicht kartografierten Stadtteils in Nairobi ihre eigene Karte erstellten, um ihre Lebensrealität sichtbar zu machen.
Diese Gegenkarten stellen die Machtkonzentration und die Interessen hinter den dominierenden Karten in Frage und zeigen, dass Karten auch eine Form des Widerstands gegen hegemoniale Strukturen sein können.
6. Schlussfolgerung: Karten als dynamische Machtinstrumente
Die ARTE-Dokumentation „Wie mächtig sind Landkarten?“ verdeutlicht eindrücklich, dass Karten weit mehr sind als einfache Darstellungen der physischen Welt. Sie sind machtvolle Werkzeuge, die Weltanschauungen formen, Machtverhältnisse widerspiegeln und beeinflussen, und in vielen Fällen sogar politische und soziale Realität schaffen.
Von historischen Karten, die Kolonialreiche legitimierten, bis hin zu modernen digitalen Karten, die unser Konsumverhalten steuern, bleibt die Kartografie ein zentrales Machtinstrument. Gleichzeitig zeigen Projekte wie OpenStreetMap, dass Karten auch als Werkzeuge des Widerstands und der Selbstbestimmung genutzt werden können.
In einer Zeit, in der Karten allgegenwärtig sind – auf unseren Handys, in unseren Autos und in der Politik – bleibt die kritische Auseinandersetzung mit ihrer Macht und ihren Interessen von zentraler Bedeutung. Denn, wie die Dokumentation zeigt, Karten sind immer auch Erzählungen – und diese Erzählungen bestimmen, wie wir die Welt sehen.