Es ist ein Satz wie aus einem Drehbuch für digitale Bekenntniskultur: „Ich konnte nicht mal mehr aufrecht sitzen, geschweige denn eure Kommentare auf Tiktok beantworten.“ Ob es Hate war oder Nonsense wird nicht gesagt.
Dann folgen sanfte Schnitte, ruhige Musik, ein müdes Lächeln. Und irgendwann, fast beiläufig, ein Link zu einem Blog, der auch auf Spanisch verfügbar ist – für die internationale Anteilnahme. Willkommen in der Krise als Content, einem der erfolgreichsten Formate unserer Zeit.
Wer heute leidet, tut es nicht mehr im Stillen. Er tut es im Quer- oder Hochformat. Auf Plattformen, deren Geschäftsmodell auf Emotionalisierung basiert. Die Träne im Auge ist da keine Schwäche – sie ist ein Thumbnail.
Diagnose: Emotion als Algorithmus-Beschleuniger
Der digitale Kapitalismus hat eine neue Währung entdeckt: das geteilte Innenleben. Krankheiten, Krisen, Verluste – sie erzeugen Klicks, Kommentare, Konversionen. Nicht weil die Menschen schlechter geworden wären, sondern weil Plattformen besser geworden sind: besser darin, Emotionen zu vermessen, Dramen zu erkennen und Notlagen als Engagement-Booster zu verwerten.
Das Ergebnis ist ein stilles Wettrennen: Wer zeigt mehr Echtheit, mehr Verletzlichkeit, mehr Kontrollverlust – ohne wirklich Kontrolle zu verlieren? Die Antwort: Menschen, die irgendwann begonnen haben, ihre Biografie in Episoden zu erzählen. Mit Titeln wie „Wie es nun weitergeht“, „Ich bin erneut gescheitert“, „Was mit mir passiert ist als…“. Es ist der Staffelpass zur eigenen Erschöpfung.
Die Schattenseite der Sichtbarkeit
Ja, man könnte sagen: Diese Menschen geben anderen eine Stimme. Sie brechen Tabus. Sie zeigen, wie es wirklich ist. Aber genau hier beginnt die Ambivalenz. Denn wo Sichtbarkeit zur Selbstdarstellung wird, kippt Empathie in Entzauberung.
Was passiert, wenn tausende junge Menschen die Symptome anderer durch eigene Videos spiegeln? Wenn Krankheit nicht mehr nur durchlebt, sondern regelrecht durchinszeniert wird – mit dramaturgischem Aufbau, Wiederkehr, Rückfällen und Comebacks? Dann entsteht kein Safe Space, sondern ein Empathie-Engpass: zu viele Gefühle, zu wenig Einordnung. Lies hierzu: Mehr Tourette-Tics durchs toxische TikTok?
Die Frage ist nicht: Dürfen Betroffene erzählen? Die Frage ist: Was machen Plattformen daraus – und was macht es mit denen, die zuschauen?
Die Verantwortungslosigkeit der Plattformen
YouTube, TikTok und Instagram behandeln psychische und chronische Krankheiten wie jede andere Content-Kategorie: Als etwas, das entweder monetarisiert oder ignoriert wird. Während Redaktionen bei Themen wie Suizid, Depression oder Essstörung Großteils noch immer verantwortungsbewusst arbeiten und Warnhinweise platzieren, herrscht in Social Media eine moralische Libertinage. Alles darf gesagt werden – Hauptsache, es performt.
Dabei gäbe es längst technische Mittel: Plattformen könnten sensible Inhalte markieren lassen. Sie könnten – analog zu Fake-News-Prüfungen – einen Health Sensitivity Layer einziehen: automatisierte Hinweise bei Videos, die über Krankheit, Trauma oder Selbstverletzung sprechen. Nicht als Zensur, sondern als Kontextualisierung. So, wie es im seriösen Journalismus längst Standard ist.
Forderung: Keine Monetarisierung ohne Einordnung
Wer persönliche Leidensgeschichten teilt, verdient Respekt – aber nicht automatisch Reichweite oder Geld. Es braucht einen neuen Kodex für Krankheits-Content:
- Keine Monetarisierung ohne medizinischen Disclaimer oder psychologische Einordnung.
- Verpflichtende Kennzeichnung sensibler Inhalte durch Creator und KI.
- Plattforminterne Regeln für Darstellungsgrenzen von Trauma und Krankheit.
Was wie ein Eingriff klingt, ist in Wahrheit ein Schutz – für Zuschauer, aber auch für die Erzähler selbst, die sich oft in einem Erzählstrudel verlieren, aus dem es kein Zurück mehr gibt.
Fazit: Echtheit braucht Grenzen
Wir leben in einer Zeit, in der das Private politisch ist – und das Persönliche profitabel. Aber nicht alles, was geteilt werden kann, sollte auch geteilt werden. Schon gar nicht unter dem Beifall eines Algorithmus, der nicht unterscheiden kann zwischen Heilung und Hyperventilation.
Krankheit darf kein Geschäftsmodell sein. Und kein Format. Vielleicht ist es Zeit für eine neue Ethik des Teilens. Eine, die Schmerz nicht zum Thumbnail macht – sondern zur Grenze.
Vielleicht braucht Social Media nicht mehr Reichweite. Sondern mehr Verantwortung.
Hinweis in eigener Sache
Dieser Beitrag ist Teil einer losen Serie auf Check-App, in der wir aktuelle Social-Media-Phänomene analysieren und kritisch einordnen – mit besonderem Augenmerk auf Verantwortung, Plattformmechanik und digitale Ethik. Lies dazu auch unseren Artikel „Hatefakes und virale Verbreitung: Wie emotionale Desinformationen Social Media erobern„. Unser Ziel ist kein bloßes Fingerzeigen, sondern die Reflexion darüber, wie digitale Öffentlichkeit gestaltet sein sollte – für alle Beteiligten.